Die agile Organisation

Bei Umstrukturierungen wird schnell die Suche nach mehr Agilität laut. Doch was bedeutet es eigentlich, wenn eine Organisation agil ist? Und wie wirken agile Organisationen?

von Detlev Trapp, Sebastian Luge

Was bewegliche Unternehmen auszeichnet

In vielen Organisationen sind ähnliche Klagen zu hören: Mitarbeiter werden von der Informationsflut erschlagen, Entscheidungsprozesse sind zäh und Innovationszyklen langwierig. Die Ursache für solche Probleme ist schnell ausgemacht: klassische Hierarchien sind zu starr. Dagegen gelten moderne Organisationsformen als Patentlösung im volatilen und komplexen Wettbewerb. Ganz so einfach ist es nicht, aber es gibt Bausteine für mehr Flexibilität und Klarheit in Organisationen.

Detlev Trapp

ist Gründer von cidpartners, einer Beratung für Organisationsentwicklung. Er unterstützt Organisationen bei der Gestaltung von Prozessen in Strategie, Transformation, Agilität und Führung.

Sebastian Luge

ist Partner bei cidpartners. Sein Fokus liegt auf der Stärkung von Veränderungsfähigkeit und der Einführung dynamischer Prinzipien auf Team- und Organisationsebene

Bei der Suche nach agilen Organisationen wird schnell klar, dass es noch keine ausgereiften Standard-Formate für größere Agilität, Flexibilität und Kundenorientierung gibt. Immerhin erfreuen sich zwei Rahmenund Regelwerke für Organisationsstrukturen zunehmender Beliebtheit – Holacracy und Soziokratie. Beide bieten ein ausreichend stabiles Gerüst, in dem sich unternehmerisches Potential in Selbstorganisation entfalten kann. Diese Konzepte beruhen auf ähnlichen Gestaltungsprinzipien und Wirkungsweisen, wie die folgende Übersicht zeigt.

Gestaltungsprinzipien und Wirkungsweisen agiler Organisationen

Gestaltungsprinzipien
Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit statt f ixierter Strukturen
Verteilte Autorität statt einigen wenigen Entscheidungsträgern
Permanente kleine Verbesserungen statt gelegentlicher „großer“ Change-Projekte

Wirkungsweisen
Agile Zusammenarbeit und situative Führung in selbstorganisierten Teams statt Weisung und Kontrolle bei gleichzeitiger Überforderung von Entscheidern
Transparenz und Klarheit über Ziele und Zielerreichung statt Informationsvorbehalt Top-down und taktisch geprägter Mikropolitik
Klarheit in Bezug auf Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse (v.a. im Kundenkontakt) statt impliziter Vereinbarungen in einer Schattenorganisation
Interdisziplinärer Austausch, stetiges Lernen, geteiltes Wissen statt Festhalten an machtsichernden Routinen

Agile Organisationsformate

1. Holocracy
Holacracy ist – als rechtlich geschützter Begriff – ein Regelwerk zur kontinuierlichen Weiterentwicklung von Struktur und Zusammenarbeit eines Unternehmens. Im Ergebnis entsteht eine flexible Organisation mit verteilten Autoritäten, bei der aber Zuständigkeiten und Befugnisse in Rollenbeschreibungen explizit festgehalten werden. Nur nicht auf Dauer – mit einem definierten Entscheidungsprozess werden in regelmäßigen Meetings die Rollen und Regeln an aktuelle Anforderungen angepasst. Weitere Meetings dienen zur Abstimmung operativer Angelegenheiten in selbstorganisierten Teams. Neben diesen Kernmerkmalen gibt es Regeln zur individuellen Aufgabenpriorisierung, Regeln zur Eskalation bei Systemversagen und Regeln zum Brechen von Regeln. Holacracy heißt also nicht mehr Freiheit von Regeln, sondern Regeln für mehr Freiheit. Das Konzept ist in sich schlüssig und bietet ein Fundament zur dynamischen Entfaltung. Der amerikanische Mode-Onlinehändler Zappos ist mit 1.500 Mitarbeitern die bekannteste „holakratische“ Firma; sie gehört seit 2009 zum nichtholakratischen Amazon-Konzern. Natürlich wird die Umstellung auf ein solches Regelwerk – je nach Reife und Größe eines Unternehmens – zum schwierigen Unterfangen

2. Soziokratie / Scrum
Das soziokratische Organisationsformat kommt im Verhältnis zu Holacracy mit weniger Regeln aus. Wichtige Grundsätze sind konsequente Selbstverantwortung von Teams und Gleichberechtigung bei definierten Entscheidungsfragen. Dabei geht es nicht wie in der Demokratie um Mehrheiten, sondern um das Finden machbarer Lösungen. Entscheidungen werden dann getroffen, wenn niemand mehr einen begründeten Einwand vorbringt: Es braucht „Konsent“ und keinen „Konsens“; im Englischen ist „consent“ (= billigen) schwächer als „consensus“ (= einig sein). Dieses „Konsentprinzip“ ist ein wichtigtes Element der Soziokratie, die erstmals Mitte der 1970er in einer niederländischen Elektronikfirma eingeführt wurde und seitdem langsam aber konstant in unterschiedlichen Organisationen Eingang fand. Derzeit experimentieren etablierte Unternehmen und junge Start-ups mit der Kombination von soziokratischen Strukturen und Entscheidungen sowie agilen Formaten wie etwa Scrum. Beide Methoden ergänzen sich, denn alle Beteiligten können ihre Meinungen und Erfahrungen einbringen. Dynamische Unternehmenssteuerung funktioniert aber auch nur mit Hilfe agiler Methoden. Dann werden einzelne Elemente – wie Rollendefinition, Kanban oder Backlog – nicht nur auf Teamebene, sondern für das gesamte Unternehmen etabliert.

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Bausteine agiler Organisationen

In diesen und anderen agilen Organisationsformaten sind drei zentrale Elemente zu erkennen. Diese Bausteine verbessern die Antworten auf Kernfragen jeder Organisation:

  • Rollenbeschreibung: Wer macht was?
  • Meetingformate: Wie finden Abstimmungen statt?
  • Entscheidungsprozesse: Wie werden Beschlüsse gefasst?

Bei der Steigerung von Flexibilität, Agilität und Kundenorientierung wirken diese drei Bausteine bereits – ohne dass gleich die gesamte Organisation auf den Kopf gestellt oder die Abkehr von Hierarchie oder Matrix ausgerufen werden muss.

Baustein 1: Modulare Rollenbeschreibungen
Ein großer Erfolgsfaktor ist die Transparenz über Zuständigkeiten und Befugnisse für wesentliche Aufgaben einer Organisation. Als besonders effektiv hat es sich erwiesen, die Aufgaben durch Teamabstimmungen in modularen Rollenbeschreibungen festzuhalten und diese regelmäßig zu aktualisieren.

Tipp

Beschreiben Sie keine Funktionen, sondern die tatsächlich geleistete Arbeit. Und statten Sie die Rollen mit den erforderlichen Befugnissen aus.

Baustein 2: passgenaue Meetingformate
Fokus und Effizienz von Meetings werden gesteigert, indem Themen unterschiedlicher Art auch in unterschiedlichen Meetingformaten bearbeitet werden. Neben normalen Arbeitsmeetings sind drei Meetingformate wichtig:

„Operative Abstimmung“: Das Team synchronisiert sich einmal pro Woche und klärt dabei gegenwärtige Umsetzungshürden. Zunächst bringen die Teammitglieder alle wichtigen Informationen auf den Tisch und räumen Platz für Verständnisfragen ein. Erst dann sammeln sie die zu klärenden Punkte und legen gemeinsam die jeweils nächsten Schritte fest.

„Strategische Abstimmung“: Etwa einmal im Quartal bietet sich ein Meeting an, in dem das Team seine grundsätzliche Ausrichtung überprüft, neuartige Vorhaben festlegt sowie die Zusammenarbeit als Team ref lektiert. Ein solches Innehalten – mit Rück- und Ausblicken – ist fester Bestandteil agiler Organisationen.

„Abstimmung zu Rollen und Regeln“: Davon losgelöst sollten Teammitglieder regelmäßig gemeinsam die Rollenbeschreibungen ihrer arbeitsteiligen Struktur sowie weitere Regelwerke und Vereinbarungen überprüfen und – falls nicht mehr auf dem aktuellen Stand – abändern.

Baustein 3: Wirkungsvolle Entscheidungsprozesse
In vielen Organisationen ist nicht klar, wie Entscheidungen getroffen werden. Oder Entscheidungen werden getroffen und dann nicht eingehalten.

Tipp

Tipp: Machen Sie eine ehrliche Inventur und prüfen Sie, wo Beschlüsse bereits gut getroffen werden und wo ein anderer Entscheidungsprozess, etwa die größere Entscheidungsautonomie auf der Umsetzungsebene, besser ist.

Die modernen Organisationsformate durchbrechen klassische Top-down-Entscheidungsregeln. Ist eine Befugnis nach unten delegiert – und in der entsprechenden Rollenbeschreibung festgehalten –, legt der Zuständige selbst fest, wie innerhalb seines Verantwortungsbereichs Beschlüsse getroffen werden. Dies verlagert die Entscheidungskompetenz dorthin, wo die relevanten Informationen liegen und die Arbeit gemacht wird. Und es verbessert Entscheidungen – ohne dass diese wegen fehlender Absegnung von Hierarchen verzögert werden.

Dieser Beitrag stammt aus dem Fachmagazin changement!, Ausgabe 1/2017 Seite 12-13



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