Radikal gut (virtuell) zusammenarbeiten 

In der Corona-Pandemie sind in vielen Unternehmen Zusammenarbeitsmodelle in Windeseile angepasst und digitalisiert worden. Nicht überall waren und sind dafür die notwendigen Fähigkeiten vorhanden. Der Ansatz Radical Collaboration zeigt auf, wie einige sehr analog anmutende Kompetenzen auch im virtuellen Raum den Unterschied zwischen Teamerfolg und innerer Kündigung ausmachen können. 

von Arne Reis

Mitte Oktober 2020: Die Corona-Fallzahlen schnellen in ganz Europa nach einem vergleichsweise ruhigen Sommer wieder massiv nach oben. Unternehmen passen ihre hybriden Arbeitsplatzkonzepte erneut an. Viele Mitarbeitende werden komplett zurück ins Homeoffice geschickt.  

Arne Reis

ist selbstständiger Agile Coach, Transformationsbegleiter und zertifizierter „Radical Collaboration“-Trainer aus Berlin. Seine Schwerpunkte sind das Design selbstorganisierter Teamstrukturen, die Ausrichtung von Zentralfunktionen wie HR an Nutzerbedürfnissen und die Stärkung crossfunktionaler Zusammenarbeit. Vor seiner Selbständigkeit war er Berater und Head of Human Relations bei HRpepper.

Auch für Gründer und Gründerinnen in der Ausbildung ist das digitale Zusammenkommen inzwischen das New Normal: An diesem sonnigen Herbsttag beschäftigen sich 120 Studierende des Masterprogramms Entrepreneurship einer bekannten europäischen Business School einen ganzen Tag lang virtuell mit dem Ansatz Radical Collaboration, der auf die Stärkung der Zusammenarbeit in Organisationen abzielt. Teilweise selbst in Quarantäne, diskutieren die angehenden Jungunternehmer und Jungunternehmerinnen angeregt. Sie beschäftigt unter anderem diese Frage: Wie kann es gelingen, in Start-ups ein konstruktives und produktives Miteinander zu schaffen – jenseits von Kicker- Tischen und Pizza-Partys, versteht sich?

Am Ende des Tages bleiben viele Kursteilnehmende länger im virtuellen Konferenz-Raum, um mit den Trainern über ganz persönliche Herausforderungen zu sprechen: den Leistungsdruck an einer Elite-Universität, die Zusammenarbeit mit Mitgründern bzw. Mitgründerinnen und die Baustellen im eigenen Konfliktverhalten. 

Individuelle Fähigkeiten sind entscheidend 

Ob Nachwuchskräfte oder Berufserfahrene: Covid-19 konfrontiert die meisten Menschen mit Ängsten und Ungewissheit. Viele Wissensarbeiter und Wissensarbeiterinnen fühlen sich gewissermaßen zurückgeworfen auf sich selbst: Sie sehen ihre Kollegen und Kolleginnen nur noch virtuell und verbringen den Großteil ihrer Arbeitstage allein vor ihren Computern. Beziehungsfördernde Interaktionen wie die Treffen in der Kaffeeküche, die sich früher zufällig ergeben haben, müssen nun aktiv gesucht und digital imitiert werden. Häufig entfallen sie ersatzlos.  

Was lässt sich für unsere massiv veränderte Arbeitswelt aus „Radical Collaboration“ lernen? Kann ein Ansatz, der vor über 20 Jahren in einer wesentlich analogeren Welt erdacht wurde, überhaupt auf die digitale und virtuelle Zusammenarbeit heutzutage angewendet werden?  

Eine erste Antwort findet sich in der Etymologie. Das Wort „radikal“ stammt vom lateinischen Begriff „radix“, die Wurzel. Jim Tamm und Ron Luyet, die das Konzept „Radical Collaboration“ entwickelt haben (siehe Infokasten), meinen damit Folgendes: Erfolgreiche Zusammenarbeit fängt mit jeder bzw. jedem Einzelnen an. Individuelle Grundhaltungen und Fähigkeiten entscheiden darüber, ob Gruppen von Menschen oder gar ganze Organisationen ihre kollektiven Ziele erreichen.

Daran hat sich per se durch Corona und die zunehmende Digitalisierung nichts geändert. Im Gegenteil: Organisationen, in denen Menschen schon vor der Pandemie partnerschaftlich zusammenarbeiteten, ist es wesentlich schneller und reibungsloser gelungen, ihren Arbeitsmodus grundlegend umzustellen. In kürzester Zeit haben sie neue Tools eingeführt, Meeting Formate angepasst und Prozesse digitalisiert.  

Welche Haltungen und Fähigkeiten ermöglichen es aber Führungskräften und Mitarbeitenden über Silogrenzen hinweg, derart pragmatische Lösungen zu finden? „Radical Collaboration“ sieht fünf zentrale Elemente: 

  • Kooperationsbereitschaft
  • Offenheit
  • Selbstverantwortung
  • Bewusstsein für sich selbst und andere
  • Interessenbasierte Problemlösung

Fünf zentrale Fähigkeiten für die erfolgreiche Zusammenarbeit nach „Radical Collaboration“

Kooperationsbereitschaft:
durch partnerschaftliches, bewusstes Verhalten in Beziehungen den beidseitigen Erfolg anstreben

Offenheit:
ein Klima schaffen, in dem Menschen sich sicher genug fühlen, schwierige Themen offen und direkt ansprechen zu können

Selbstverantwortung:
Verantwortung für die Konsequenzen eigener Handlungen und für das Finden von Lösungen übernehmen

Bewusstsein für sich selbst und andere:
eigene Bedürfnisse, Arbeitspräferenzen und Motivationen genauso erkunden und verstehen wie die des Gegenübers, um zwischenmenschliche
Dynamiken konstruktiv und zur Zufriedenheit aller gestalten zu können

Interessensbasierte Problemlösung:
Konflikte, die unweigerlich in jeder Beziehung auftreten, durch den Fokus auf die zu Grunde liegenden Interessen der beteiligten Parteien auflösen und Synergiepotenziale ausnutzen

Wenn die Arbeitsmoral sinkt

Anhand zweier fiktiver Bereichsleiterinnen aus demselben Großkonzern können wir beispielhaft nachvollziehen, wie die Ausprägung dieser Fähigkeiten bei der Führungskraft die Zusammenarbeit in virtuellen Teams direkt beeinflusst. 

Die erste Bereichsleiterin, Hanna, ist nach einem halben Jahr Pandemie zusehends frustriert. Seit ihr Team hauptsächlich virtuell zusammenarbeitet, ist die schon vorher überschaubare Arbeitsmoral weiter gesunken. Hanna hat den Eindruck, dass sich niemand außer ihr für das Team ein Bein ausreißt. Die Devise für die meisten scheint „Dienst nach Vorschrift“ zu lauten. In den Online-Meetings herrscht bleierne Schwere. Auch in der jüngsten Mitarbeiterbefragung haben Hannas Mitarbeitende entsprechend votiert. Zuletzt haben sogar zwei Teammitglieder gekündigt. Leider ist sich Hanna nicht bewusst, dass sie daran eine Mitschuld trägt. Als ehrgeizige Führungskraft, die schnell aufgestiegen ist, empfand sie die Turbulenzen im Frühling 2020 als besondere Zumutung. Schließlich wollte sie noch im laufenden Jahr zur Abteilungsleiterin befördert werden. Dieser Plan hatte sich durch die schwierige Geschäftsentwicklung jedoch schnell erledigt. 

Hanna agierte deswegen in einer für ihr Team kritischen Phase sehr reizbar und gestresst. Anstatt jedoch offen über ihre eigenen Herausforderungen zu sprechen, trimmte sie ihr Team beim Wechsel ins Virtuelle auf noch mehr Effizienz. „Wir dürfen uns jetzt keine Blöße geben“, trug sie entschlossen vor. Das wirkte – aber anders, als Hanna beabsichtigt hatte.

Die Leistung der Mitarbeitenden, die im Homeoffice Arbeit und Familie jonglierten, wurde schlechter. Sie trauten sich nicht, ihre schwierige Situation mit der Vorgesetzten zu besprechen. Daraufhin führte Hanna ein strengeres Reporting ein. Fast alles ging jetzt über ihren Tisch, bevor es das Team verließ. Von ihren Mitarbeitenden war sie mehr und mehr enttäuscht:

Ich setze mich so stark für unsere Ziele ein, bin immer erreichbar – und niemand tut es mir gleich oder schätzt mich für meinen Einsatz.

Als Führungskraft Werte vorleben 

Bei der zweiten Bereichsleiterin, Caroline, stellen die Dinge sich anders dar. Auch ihre Teammitglieder arbeiten seit dem ersten Lockdown fast ausschließlich von zu Hause aus. Die Atmosphäre untereinander ist jedoch konstant vertrauensvoll und offen geblieben. Der gemeinsam angepasste Arbeitsmodus wird von allen aktiv mitgetragen. Die Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache: Carolines Team schneidet als eines der besten des gesamten Standorts ab.

Caroline weiß um ihren Beitrag zu diesem Erfolg. Sie unterschätzt ihn sogar. Durch ihre kooperative Grundhaltung unterschied sich ihre Reaktion auf die Pandemie fundamental von Hannas. Caroline betrachtete Corona von Beginn als große Herausforderung, die nur gemeinsam mit dem gesamten Team lösbar ist. Im ersten komplett virtuellen Team-Meeting teilte sie mit ihren Mitarbeitenden, dass sie selbst verunsichert sei. „Wir sind in einer Ausnahmesituation, die von uns allen viel Flexibilität und gegenseitige Rücksichtnahme erfordert.

Caroline lebte diese Werte vor und erreichte dadurch, dass auch die Teammitglieder offen über ihre Schwierigkeiten im Umgang mit der neuen Situation sprachen. Zudem profitierte sie davon, dass sie neben ihren eigenen auch die Präferenzen ihrer Mitarbeitenden gut kannte. Caroline wusste, welche Kollegen bzw. Kolleginnen im virtuellen Umfeld mehr Freiraum oder Orientierung brauchen. Auch wenn es Rückschläge und Motivationstiefs gab – das Team bewies erstaunliche Kreativität und entwickelte aus sich selbst heraus innovative digitale Meeting-Formate und Prozesse. Viele davon wurden anschließend von Nachbar Teams übernommen.

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Nach sechs Monaten virtueller Zusammenarbeit stehen Hanna und Caroline mit ihren Teams an sehr unterschiedlichen Punkten. Hanna hat durch ihre Herangehensweise das zementiert, was in „Radical Collaboration“ als „pinke Zone“ bezeichnet wird. In einer solchen Arbeitsumgebung sind Mitarbeitende sehr zurückhaltend, neue Ideen einzubringen. Sie versuchen, Konflikte zu vermeiden und lassen vieles über sich ergehen. Ihre Passivität ist eine Form von Selbstschutz in einer angsterfüllten Kultur. Kritik kann in den Augen von Hannas Teammitgliedern nur anonym in der Mitarbeiterbefragung geäußert werden. Für einige bleibt nur der Ausweg, das Team zu verlassen. 

Psychologische Sicherheit als Erfolgsfaktor

Caroline hat durch ihre Impulse hingegen eine „grüne Zone“ geschaffen. Ihr offenes und bedürfnisorientiertes Vorgehen hat ihren Teammitgliedern psychologische Sicherheit vermittelt. Die Professorin Amy Edmondson von der Harvard Business School versteht darunter das „Vertrauen, dass ein Team niemanden bloßstellt, ausgrenzt oder bestraft, der offen seine Meinung äußert“. In einer viel zitierten Untersuchung mit knapp 200 Teams fanden Forscher und Forscherinnen heraus, dass für den Erfolg von Teams des Internetkonzerns Google die psychologische Sicherheit der jeweiligen Mitglieder der wichtigste Faktor ist.

Die prototypischen Organisationskulturen grüne Zone, pinke Zone sowie rote Zone (aggressive Konfliktaustragung) aus „Radical Collaboration“ korrelieren auch mit den Ergebnissen des jährlichen „Gallup Engagement Index“. In diesem zeigt sich über Jahre relativ konstant, dass etwa 15 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland eine positive emotionale Bindung zu ihrem Arbeitgeber verspüren (grüne Zone). Circa 70 Prozent identifizieren sich nur bedingt und machen weitgehend Dienst nach Vorschrift (pinke Zone). Die restlichen 15 Prozent sind praktisch vollständig von ihrem Arbeitgeber abgekoppelt und befinden sich nicht selten in der inneren Kündigung (rote Zone). 

In verschiedenen Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass „Radical Collaboration“-Programme einen nachhaltigen Effekt auf die Kultur der Zusammenarbeit haben. Insbesondere fiel es Teilnehmenden deutlich leichter, in ihren Teams eine grüne Zone zu etablieren, mit unterschiedlichen Arbeitspräferenzen umzugehen und Konflikte konstruktiv zu lösen. Wie die Fallbeispiele von Hanna und Caroline gezeigt haben, sind diese Fähigkeiten auch für die virtuelle Zusammenarbeit elementar.

Hintergrund von „Radical Collaboration“

Der Ansatz „Radical Collaboration“ geht auf den ehemaligen US-Verwaltungsrichter Jim Tamm und den irtschaftspsychologen Ron Luyet zurück. In ihrer Arbeit in den frühen 90er Jahren fanden sie heraus, dass bestimmte Konfliktparteien rechtliche Auseinandersetzungen wesentlich konstruktiver beilegten als andere. In diversen Untersuchungen ermittelten die beiden, dass
die Fähigkeiten für den Aufbau von Beziehungen sowie die Lösung von Konflikten hierfür ausschlaggebend waren. Auf Basis dieser Erkenntnisse entwickelten sie ein dreitägiges Grundlagen-Training zur Stärkung dieser Fähigkeiten, das je nach Organisation um spezifische Transfermaßnahmen angereichert wird. Seit Mitte der 90er Jahre wurde „Radical Collaboration“ in mehreren tausend Organisationen in aller Welt implementiert, um Arbeitsbeziehungen konstruktiver zu gestalten. Die Wirksamkeit des Programms ist durch wissenschaftliche Studien evaluiert und belegt.

Auch andere Fähigkeiten sind wichtig 

Gleichzeitig gilt, dass in unserem digitalen Zeitalter auch viele andere Haltungen und Fähigkeiten darüber mitentscheiden, ob Individuen und Teams im virtuellen Raum Erfolg haben. Dazu zählen etwa Technologie-Kompetenz, Strukturierungsvermögen, der Umgang mit Unsicherheit und die Emotionsregulation. 

Die „Radical Collaboration“-Community hat ihre Trainingsformate inzwischen fast vollständig digitalisiert. Auch wenn Trainer und Trainerinnen umdenken müssen und sich einige sehr effektive Übungen online nicht abbilden lassen: Der Ansatz funktioniert auch virtuell.  

Nichtsdestotrotz machen jüngste Studienergebnisse nachdenklich. Die Bitkom Akademie und HRpepper Management Consultants haben in ihrer Untersuchung „Weiterbildung 2025“ Einschätzungen zur Lernlandschaft der Zukunft erhoben. Knapp 60 Prozent aller Befragten gehen davon aus, dass sich in den nächsten Jahren das Angebot von Präsenz-Formaten gegenüber virtuellen Formaten weiter reduzieren wird. Gleichzeitig empfinden nur 27 Prozent dies als wünschenswert.

In den Worten von Jim Tamm, einem der beiden Autoren von „Radical Collaboration“, klingt das folgendermaßen: „Digitale Kanäle funktionieren besser als gedacht. Trotzdem kann ich es kaum erwarten, Menschen wieder von Angesicht zu Angesicht zu unterstützen, ihre Zusammenarbeit zu verbessern.“ 



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