Eine Frage der Haltung, der Werte und Prinzipien

Die agile Organisation ist in aller Munde. Doch was ist das eigentlich? Der Versuch einer Annäherung. 

von Jan C. Weilbacher

Die Frage, ob „die agile Organisation“ mittlerweile ein Buzzword geworden ist, spielt keine Rolle. Keine wesentliche zumindest. Es gibt dem Kind einen Namen, nämlich der Notwendigkeit, sich an seine Umwelt anzupassen. Mehr denn je entscheidet die Fähigkeit zum agilen Handeln nicht nur über den wirtschaftlichen Erfolg, sondern sie ist der wesentliche Faktor, von dem die Überlebensfähigkeit einer Organisation abhängt.

Jan C. Weilbacher

Chefredakteur “changement!”
Senior Consultant @HRpepper

1. Die Umwelt

„Die agile Organisation ist kalter Kaffee“, hat der Organisationssoziologe Stefan Kühl einmal gesagt und sich über den vermeintlichen Hype lustig gemacht. Kühl hat sicher Recht, dass Agilität kein neues Phänomen ist. Auch früher mussten Organisationen sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen. Und doch ist heute vieles anders. Dass das Phänomen überall so sehr im Fokus steht – und das zu Recht –, liegt insbesondere daran, dass Schnelligkeit eine wesentlich größere Bedeutung hat als früher. Auch vermeintliche Branchengiganten können heute in kurzer Zeit vom Markt verschwinden, wenn sie sich nicht schnell genug bewegen. 

Digitale Technologien sind der wichtigste Treiber für die ansteigende Dynamik und Komplexität.

Und es geht nicht nur um inkrementelle Anpassungen, sondern immer mehr auch um radikale Veränderungen der Organisationen: vor allem der eigenen Geschäftsmodelle und Produkte und – daraus folgend – der eigenen Strukturen und Prozesse. Der Grund ist vor allem die Digitalisierung. Digitale Technologien sind der wichtigste Treiber für die ansteigende Dynamik und Komplexität. Die technologische Entwicklung macht immer größere Sprünge beziehungsweise geht immer schneller vonstatten. Sie wächst exponentiell. Heute ist die Digitalisierung die strukturprägende Basisinnovation, die durch die intelligente Vernetzung und Kombination bereits bestehender Technologien alle Bereiche des Wirtschaftens beeinflusst. Diese massive Wucht unterschätzt Stefan Kühl. 

2. Die Haltung

Immer wieder kann man lesen, dass Agilität nicht nur die Anwendung von Methoden zum Inhalt hat, sondern vor allem eine Frage der Haltung ist. Nämlich die Haltung, offen für Veränderungen zu sein, wachsen zu wollen, wiss- und lernbegierig zu bleiben. Daraus abgeleitet wird das vielzitierte „lebenslange Lernen“ sowohl zum Erfolgsfaktor für Organisationen als auch für Individuen. Jede agile Organisation ist auch eine lernende Organisation. 

3. Die Kultur

Hier nennt uns der Scrum Guide von Ken Schwaber und Jeff Sutherland konkrete Werte, die das agile Arbeiten prägen sollten: 

  • Commitment
  • Mut
  • Fokus
  • Offenheit
  • Respekt

Das Leben dieser Werte in der täglichen Arbeit führt mit der Zeit im besten Fall zu einem gegenseitigen Vertrauen der Organisationsmitglieder. Die Werte sind aber nicht statisch zu betrachten, denn jede Organisation muss immer wieder aufs Neue herausfinden, was genau diese Werte für die Zusammenarbeit bedeuten. 

4. Die Prinzipien

Von den Werten lassen sich die Prinzipien bzw. Designkriterien unterscheiden, die Strukturen, Arbeitsweisen und Prozesse prägen sollten. Schaut man sich agile Frameworks und Methoden an, lassen sich vor allem folgende Prinzipien hervorheben: 

  • Kundenzentrierung
  • Iteration
  • Vernetzung/Interdisziplinarität
  • Transparenz
  • Eigenverantwortung/Selbstorganisation

Kundenzentrierung: Es muss klar sein, dass ein Produkt für den Kunden gemacht wird, der ein bestimmtes Bedürfnis hat, das es zu befriedigen gilt oder ein Problem, das es zu lösen gilt. Die Wertschöpfung orientiert sich am Kundennutzen. Letztlich dienen auch alle Prozesse und Programme der Bedürfnisbefriedigung des Kunden und sollten sich ebenso wie die Strukturen daran orientieren. Das heißt aber auch, sich als erstes mit dem Kunden und seinen Bedürfnissen auseinanderzusetzen, die dieser im Zweifelsfall selbst nicht eindeutig benennen kann.

Iteration: Organisationen sind heute gezwungen, auf Sicht zu fahren. Es lohnt sich nicht mehr, etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt komplett zu Ende zu planen. Wie das Produkt, bestimmte Programme oder gar die Strategie letztlich aussehen werden, weiß zum Beginn der Entwicklung niemand. Sie werden Schritt für Schritt verbessert. Die Entwicklung vollzieht sich in iterativen Schleifen, in dem immer wieder in den Dialog gegangen und Feedback eingeholt wird. 

Vernetzung/Interdisziplinarität: In Zeiten zunehmender Komplexität geht es darum, die kollektive Intelligenz und Kreativität einer Organisation bestmöglich zu nutzen. Und es braucht hinsichtlich einer Problemlösung und damit auch bei der Produktentwicklung eine ganzheitliche Betrachtung. Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven und Expertisen entwickeln im Austausch miteinander die Lösung. Interdisziplinarität ist im Design Thinking ein wesentliches Prinzip. Genauso sieht Scrum ein Team vor, das bei der Software-Entwicklung die gemeinsame Verantwortung für Produkte und Features übernimmt.

Das Prinzip der Vernetzung muss nicht an Organisationsgrenzen Halt machen. Denn ein Großteil der Wertschöpfung ist zunehmend abhängig von der Existenz von Unternehmensnetzwerken und weniger von den Ressourcen, die ein Unternehmen besitzt. Die Fähigkeit, Netzwerke auszubilden und in solchen Systemen interagieren zu können, ist für viele Unternehmen heute ein entscheidender Faktor, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein. 

Eigenverantwortung/Selbstorganisation: Dass Teams eigenständig entscheiden, wie sie die Produktentwicklung angehen, ist ein wesentliches Prinzip im Scrum. Da Schnelligkeit und Anpassungsfähigkeit wichtige Erfolgsfaktoren für Organisationen sind, muss gemäß dem Subsidiaritäts-Prinzip die Möglichkeit der Entscheidung so weit nach unten gegeben werden, wie es geht. Wenn Entscheidungen immer wieder nach oben delegiert werden, sind Unternehmen zu langsam. Mitarbeitende, die in der Lage sind – und (kulturell) die Erlaubnis haben – eigenverantwortlich zu handeln und initiativ tätig zu werden, machen oftmals den Unterschied. 

Transparenz: Erst wenn Mitarbeiter und Führungskräfte alle nötigen Informationen haben, können sie bestmöglich agieren. Transparenz ist die Basis einer guten Zusammenarbeit und die Voraussetzung für Vertrauen. Sie bezieht sich auf der horizontalen Ebene zum einen auf einen gut funktionierenden Informationsfluss zwischen den Beteiligten der direkten Zusammenarbeit: Woran arbeitet jeder? Was ist der aktuelle Stand? Zum anderen bezieht sie sich auf die darüberhinausgehenden Strukturen, auf das Umfeld innerhalb des Unternehmens. Es kann wichtig werden zu wissen, woran andere Einheiten arbeiten, um zum Beispiel Synergieeffekte zu erzielen. Oder zu wissen, wo ein Experte zu einem bestimmten Thema sitzt, der helfen kann. Zusätzlich braucht es eine Transparenz in Bezug auf das große Ganze. Erst wenn klar ist, wohin das Unternehmen steuert, was die Ziele sind, kann die Zusammenarbeit und der eigene Beitrag entsprechend eingeordnet und Sinnstiftung stattfinden. Agile Organisationen folgen nicht selten dem Prinzip „transparency by default“, das heißt, jede Information ist standardmäßig erst einmal für jeden transparent. Wenn sie das nicht sein soll, muss es eine Begründung dafür geben.

5. Die Führung

Da Entscheidungsfindung tendenziell schneller und dezentral stattfinden muss, ist Führung in agilen Organisationen eher prozess- und zielorientiert mit dem stetigen Anspruch, die Selbstorganisation von Gruppen und die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden zu fördern. Sie sollten in die Lage versetzt werden sowie Bedingungen vorfinden, möglichst viele Entscheidungen eigenständig zu fällen. Schon lange vor der Popularität von Agilität hat Reinhard K. Sprenger betont, dass die erste Kernaufgabe von Führung ist, Zusammenarbeit zu organisieren. Es braucht bei den Führungskräften den Willen zu dienen, also die Bedürfnisse anderer zu priorisieren. Hinzu kommt die Fähigkeit zu moderieren und Konflikte zu managen.

Agile Führungskräfte sind empathisch und kommunikationsstark. Führung in agilen Organisationen entsteht im besten Falle unabhängig von der formellen Struktur. Denn allein sich auf die Hierarchie zu berufen, hilft langfristig nicht, wenn intelligente Menschen der jeweiligen Person keine Führungskompetenz zuschreiben. Führung ist immer eine Beziehung: Es gibt einen Führenden und einen Geführten, der mit der Führung – für eine gewisse Zeit – einverstanden ist. Diese Beziehung ist dynamisch. Führung in agilen Organisationen wird immer neu verhandelt. 

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6. Die Strukturen

Auch Strukturen sind nichts Statisches mehr. Welche Strukturen brauchen wir, um uns schnell anpassen zu können und möglichst schnell Produkte und Innovationen zu entwickeln? Diese Frage stellt sich immer wieder aufs Neue und muss von jeder Organisation je nach Geschäftsmodell und Kultur individuell beantwortet werden. Klar ist: Entscheidungen sollten so marktnah wie möglich getroffen werden. In agilen Organisationen sind deshalb generell Teams die wichtigste wertschöpfende Einheit. Sie sind nah am Kunden und können weitgehend eigenständig agieren. 

7. Die Herausforderungen

Mittlerweile beschäftigt sich so ziemlich jedes Unternehmen mit dem Thema Agilität – allerdings mit einem sehr unterschiedlichen Grad an Ernsthaftigkeit und Konsequenz. Viele Organisationen haben einzelne oder mehrere Teams, die agil Produkte entwickeln – Software sowieso.

Allerdings zeigen sich vor allem zwei Herausforderungen. Zum einen ist die Schnittstelle der Teams mit dem Rest der Organisation in vielen Unternehmen ein Problem bzw. die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen selbstorganisierten Teams. Frameworks wie LeSS und SAFe versuchen der Zusammenarbeit von verschiedenen Scrum Teams einen Rahmen und Regeln zu geben. Dennoch ist das in Unternehmen mit einer gewissen Komplexität, die unterschiedliche Geschäftsmodelle und Produkte haben, schwierig, weil es erfahrungsgemäß dennoch auf verschiedenen Ebenen Interdependenzen gibt. In Organisationen, die im Grunde an einem einzigen Produkt arbeiten, ist das einfacher.  

Die zweite wesentliche Herausforderung in agilen Organisationen sind insbesondere HR-Themen. Wie zum Beispiel Vergütungssysteme, das Performance Management und die Karriereentwicklung aussehen oder ob es überhaupt Themen sind, die zentral gesteuert werden müssen, damit tun sich viele schwer. Denn die bekannten Frameworks geben darauf keine Antwort. Hier müssen tatsächlich sehr individuelle Antworten gefunden werden. Und egal wie sie zukünftig aussehen, sie werden die Kultur einer (agilen) Organisation massiv beeinflussen. 



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