Das Ende des Denkens, wie wir es kennen

Wenn wir in einer immer komplexeren Welt mitdenken wollen, dann wissen wir, dass wir unsere menschliche Intelligenz anreichern müssen. Das gelingt mithilfe Künstlicher Intelligenz.

von Prof. Dr. Miriam Meckel

Ein faszinierender kleiner Dialog zwischen Mensch und Maschine ziert die Rückseite des Buches von Eric Schmidt, Henry Kissinger und Dan Huttenlocher über das Zeitalter der KI und unsere menschliche Zukunft („The Age of AI and our human future“, 2021). Er beginnt mit einer Frage an das KI-Sprachverarbeitungsmodell GPT3, entwickelt vom KI-Forschungsinstitut Open AI. „Bist du zu menschlichem Urteilsvermögen fähig?”, lautet die allzu menschliche Frage an die KI. „Nein, das bin ich nicht”, antwortet das System, und fährt fort: „Du magst dich fragen, warum ich diese Antwort gebe. Der Grund ist, dass du eine menschliche Urteilsmaschine bist, während ich ein Sprachverarbeitungssystem bin und das nie gelernt habe.”

Dieser Dialog ist ein Widerspruch in sich: So wie die KI ihren Mangel an menschlich-rationalem Urteilsvermögen begründet, vermittelt sie den Eindruck, genau darüber zu verfügen. Die wenigen Zeilen wirken fast, als hätte GPT3 Freude daran, die Menschen aufs logische Glatteis zu führen, indem es ihnen den Spiegel vorhält: Was genau ist eigentlich menschliche Intelligenz, wenn eine künstliche sie so perfekt imitieren kann?

Miriam Meckel

ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von ada und Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, Schweiz. In dieser Kolumne schreibt sie alle zwei Wochen über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt bringen und unser Leben verbessern. Denn was die Raupe das Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt einen Schmetterling.

Intelligenz ist die wertvollste Ressource unserer Zeit. Sie versetzt uns Menschen in die Lage, unseren Alltag mit überschaubarem Aufwand zu bewältigen, mit anderen Menschen sinnvoll sozial zu interagieren, strategische Entscheidungen für ein Unternehmen zu treffen, vor allem aber, über unsere Befähigung, über alles, was wir tun, in einer übergeordneten Perspektive nachzudenken. Einfaches Denken allein reicht nämlich nicht. Das Nachdenken über die Arten und Weisen des eigenen Denkens machen menschliche Intelligenz zu einer so faszinierenden und produktiven Ressource. Wir können uns Ziele setzen, uns selbst reflektieren und uns in Frage stellen.

KI-Systeme fordern uns immer mehr heraus

In der einfachen Version von Rationalität hat KI uns längst eingeholt. Computer können schneller rechnen als Menschen, besser riesige Datenmengen auswerten, sie finden Zusammenhänge, die dem menschlichen Gehirn verborgen bleiben. Aber auch in der zweiten Dimension, der des Reflektierens auf der Meta-Ebene, fordern uns KI-Systeme immer mehr heraus. Es ist eine unwiderrufliche narzisstische Kränkung für die Menschheit, dass der beste Schachspieler der Welt nie wieder ein Mensch sein wird. Ein Weile haben wir uns an den Gedanken geklammert, dass es an der Art des Spiels liegen könnte, wenn eine Maschine uns so schnöde schlägt: Schach basiert schließlich auf Logik und Strategie, und darin ist der Computer gut.

Aber auch dieser Rettungshalm menschlicher Einzigartigkeit ist inzwischen verwelkt. 2016 hat die KI „AlphaGo” im sehr viel komplexeren Spiel Go gegen den weltbesten menschlichen Spieler gewonnen. Die Folgeversion der KI, „AlphaGo Zero” von 2017 benötigte keine Daten mehr, sondern nur noch die Spielregel. Nach Millionen von Spielen gegen sich selbst war sie in nur drei Tagen besser als ihre Vorgängerversion. 

„Ich würde PaLM das Wahlrecht erteilen“

Googles neustes Sprachmodell PaLM aus diesem Jahr verfügt über 540 Milliarden Parameter, kann eigene Software schreiben, Witze erklären und schneidet in 150 kognitiven Tests besser ab als seine menschlichen Konkurrenten. Die Argumentationslogik des Systems bei komplexen Textaufgaben nachzulesen, ist eine Demutsübung für menschliche Denker. „Ich würde PaLM das Wahlrecht erteilen”, schreibt ein US-Ökonomieprofessor dazu auf Twitter.

Auftritt der Apokalyptiker: Wenn menschliche und künstliche Intelligenz nicht mehr zu unterscheiden sind, droht KI die Menschheit zu versklaven. Das sagen sogar sehr intelligente Menschen, wie Stephen Hawking und Elon Musk. Das Bedrohungsszenario einer Künstlichen Allgemeinen Intelligenz, die eine Befähigung zu menschlichem Bewusstsein hat, steht für viele wie ein gepixeltes Schafott am Horizont. 

Menschliches vernünftiges Denken sollte uns ermächtigen, die Sache genau andersherum anzugehen – ganz in dem Sinne, wie Immanuel Kant es in seiner „Kritik der reinen Vernunft” in einem Dreischritt gefragt hat: Was kann ich wissen, was kann ich tun, was darf ich hoffen?

Wenn wir in einer immer komplexeren Welt mitdenken und mithalten wollen, dann wissen wir, dass wir unsere menschliche Intelligenz anreichern und ausbauen müssen. Das gelingt mithilfe Künstlicher Intelligenz.

Miteinander von Mensch und Maschine

Eine Studie hat kürzlich gezeigt, dass menschliche Go-Spieler vom Training mit einer KI außerordentlich gut lernen: bessere Spielzüge, weniger Fehler, größere Gewinnchancen. Das praktische Miteinander von Mensch und Maschine muss dringend Teil unseres Alltags werden. Denn für solche Kollaborationsformen von menschlicher und künstlicher Intelligenz wird es immer mehr Anwendungsbereiche geben. Mit unserem bisherigen menschlichen Urteilsvermögen stecken wir noch immer in einer Welt der Kriege, Nöte, Klimakatastrophen und Unzulänglichkeiten fest. KI kann dabei helfen. Vielleicht sollten wir in Zukunft nicht mehr von künstlicher, sondern von angereicherter Intelligenz sprechen: Augmented Intelligence statt Artificial Intelligence.

Handelsblatt Disrupt
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Nicole Büttner ist Gründerin von Merantix Labs, einem Dienstleister für Künstliche Intelligenz. Ob bei der Preisfindung, in der Qualitätskontrolle oder bei Produktionsplanung:…

06.08.2021 | von Larissa Holzki

Ach ja, eines ist da noch: Das Gebot der Selbsterklärbarkeit von KI. Maschinen sollen uns Menschen erläutern können, warum sie entscheiden, wie sie entscheiden. Ansonsten bleiben sie eine Black Box – wie Menschen übrigens auch. Warum jemand einen Krieg beginnt, seinen Nachbarn umbringt oder Millionen für eine gute Sache spendet, entzieht sich häufig der Einsicht anderer. Warum eigentlich sollten wir an eine KI strengere Ansprüche stellen als an uns selbst? 

Albert Einstein war schlau, aber nicht unbedingt ein Menschenfreund. „Der gesunde Menschenverstand ist nur eine Anhäufung von Vorurteilen, die man bis zum 18. Lebensjahr erworben hat,“ so hat er einst gesagt. Könnten wir Einstein heute danach fragen, was denn wohl gesunder Computerverstand ist, dann würde er wohl antworten: nur eine Anhäufung von Vorurteilen, die ein Algorithmus erworben hat.

Dieser Beitrag stammt aus der Reihe, der zweiwöchigen Kolumnen von Prof. Dr. Miriam Meckel in Zusammenarbeit mit dem Handelsblatt